Originalbeitrag erschienen bei andrologen.info | andro.topics
Hintergrund
Epidemiologische Studien lassen erkennen, dass eine SARS-CoV-2-Infektion bei Männern und Frauen gleich häufig ist. Aber unabhängig vom Alter ist das Ergebnis der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei Männern in der Regel ungünstiger als bei Frauen. Die unterschiedliche Schwere der COVID-19-Verläufe könnte eine Erklärung in Unterschieden im Wirtsgenom finden. Aktuell wurde die genetische Variabilität anhand von Polyaminosäure-Motiven ins Auge gefasst. Unter derartigen Polymorphismen ist die Anzahl der CAG-Wiederholung im ersten Exon des Androgenrezeptor (AR)-Gens bekannt, die im AR-Protein als unterschiedlich langer Polyglutamintrakt ausgeprägt ist und die Androgenität beeinflusst.
Zielsetzung
Die Assoziation von Polyaminosäure-Polymorphismen mit dem Schweregrad der Erkrankung nach SARS-CoV-2-Infektion sollte durch deren Vergleich bei schwer betroffenen COVID-19-Patienten und SARS-CoV-2 PCR-positiven oligoasymptomatischen Patienten analysiert werden.
Patienten und Methoden
In den kodierenden Abschnitten aller Gene des Menschen wurde mittels WES („whole exome sequencing“) nach Polyaminosäure-Motiven gefahndet. Verglichen wurden 230 Patienten mit CPAP/BiPAP (continuous positive airway pressure/biphasic positive airway pressure) und 108 Patienten mit endotrachealer Intubation in der Fallgruppe mit 200 Patienten, die keine Hospitalisierung benötigten als Kontrollen.
Allein die Länge des Glutamintrakts im AR beeinflusst das COVID-19-Ergebnis
Mittels logistischer Regression wurde das Androgenrezeptor (AR)-Gen aus 40 ausgewählten Genen mit Aminosäure-Wiederholungen als das einzige Gen identifiziert, dessen CAG-Polymorphismus eine Assoziation mit der Schwere von COVID-19-Verläufen mit befriedigender Genauigkeit und Präzision liefert (Sensitivität 64%, Spezifität 55%).
Anzahl der CAG-Wiederholungen im AR-Gen bei Fällen und Kontrollen
Die männlichen Patienten wurden anhand der CAG-Allelen im AR-Gen in die Kategorien mit ≤22 und ≥23 CAG-Wiederholungen eingeteilt. Bei den Männern der asymptomatischen Kohorte war der Anteil derjenigen mit <22 CAG-Wiederholungen (74,7%) höher als unter den COVID-19-Patienten (59,1%). Der Unterschied war signifikant für die Gruppe der unter 65-jährigen Männer, bei denen genetische Faktoren erwartungsgemäß erhebliche Auswirkungen haben (p=0,024).
Eine Validierung dieses Ergebnisses wurde bei einer unabhängigen Kohorte mit 158 unter 65 Jahre alten spanischen Männern (117 Fälle und 41 Kontrollen) vorgenommen (p=0,014).
Androgenrezeptorresistenz bei Männern mit längeren CAG-Allelen
Bei Patienten, deren AR ≥23 Glutaminreste aufwies, wurden höhere Gesamttestosteronspiegel bestimmt als bei Patienten mit ≤22 Glutaminresten im AR (13,45 vs 11,23 nmol/l, p=0,042). Darin spiegelt sich das verminderte negative Feedback durch den weniger aktiven AR wider. Dieser Unterschied zeigte sich auch beim Vergleich der TT-Spiegel und der CAG-Wiederholungen in der Fall- und der Kontrollgruppe (Abb.).
Testosteron-AR-Axis bei Männern mit längerem (CAG)n-Allel
Von 61 Patienten (43 den Genotyp ≤19 und 18 den Genotyp ≥25 CAG-Repeats repräsentierend) waren Interviews verfügbar, die nach der Infektion unter Verwendung des Androtest [Millar AC, et al. 2016. CMAJ 188(13):E321–30.] geführt worden waren. Damit sollte nachgewiesen werden, dass die verminderte AR-Aktivität zu Anzeichen und Symptomen eines Hypogonadismus führt. Tatsächlich hatten 38% der Männer mit längerem (CAG)n-Allel einen Androtest-Score ≥8 gegenüber nur 16% derjenigen mit ≤19 Glutaminresten im AR (Wahrscheinlichkeit: p=0,046).
Eine verminderte Signaltransduktion des AR kann durch höhere Testosteronspiegel teilweise kompensiert werden. Doch das reduzierte negative Feedback reichte nicht aus, die Effekte eines längeren (CAG)n-Allels zu toppen (Abb.).
Der gemeinsame Effekt des Testosteronspiegels und der Polyglutaminlänge im AR auf die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten bei COVID-19 eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, wurde mittels logistischer Regression bestimmt. Das ergab eine signifikante Interaktion, die das beeinträchtigte Feedback als den Prädiktor eines Worst-Case-Szenarios, erscheinen lässt, nämlich Intubation oder CPAP/BiPAP (continuous positive airway pressure/biphasic positive airway pressure) versus Hospitalisierung ohne Erfordernis einer Vorrichtung zur Unterstützung der Atmung.
Kernaussagen
❏ Der vorgestellte Ansatz zur Prädiktion des Risikos für mit SARS-CoV-2 infizierte Patienten mit lebensbedrohlichen Komplikationen konfrontiert zu werden, erreicht 77% Genauigkeit, 81% Präzision, 77% Sensitivität und 78% Spezifität.
❏ Ein stark androgenaktiver Androgenrezeptor ist ein potenzieller Schutzfaktor vor schwerem COVID-19-Verlauf.
❏ Bei einer Bestätigung der Ergebnisse sollte in geeigneten klinischen Studien untersucht werden, ob sich bei Patienten mit schweren Krankheitsverläufen Morbidität und Mortalität durch Testosteronsubstitution verringern ließen.
❏ Auch wenn andere Prädiktoren wie Alter und Geschlecht eine stärkere Risikoassoziation mit dem COVID-19-Ergebnis haben, ist das Risiko bei einer hohen Anzahl CAG-Wiederholungen im AR-Gen ebenfalls hoch signifikant und gehört zu den wenigen bekannten, relativ verbreiteten genetischen Prädiktoren bei COVID-19.
Literatur
Baldassarri M, Picchiottic N, Fava F, et al. 2021. Shorter androgen receptor polyQ alleles protect against life-threatening COVID-19 disease in European males. EBioMedicine 65 (2021) 103246.